Mit
diesen wunderschönen, so berührenden Worten möchte ich mich euch vorstellen.
Mein Name ist Vanessa, ich bin 35 Jahre jung und von Herzen eine glückliche
Mutter von drei Kindern.
Dir,
liebe Julia, möchte ich danken, für Dein Vertrauen, für die Möglichkeit und für
den Raum, den Du mir auf deinem so zauberhaften Blog zur Verfügung stellst.
Unsere
Geschichte ist mir eine besondere Herzensangelegenheit und ich hoffe, ihr habt
Verständnis, dass ich den Namen, der kleinen Hauptperson, ändern muss. Ich
werde sie liebevoll „Mogli“ nennen, wie das Kind, was aus dem Dschungel kam und
ebenfalls einer „Herzfamilie“ angehörig war.
Genau heute, vor vier Jahren klingelte gegen
14.20 Uhr das Telefon. Ich erkannte gleich die Nummer unseres Jugendamtes und
mein Herzschlag setzte eine Millisekunde aus, um dann umso schneller
weiterzuschlagen.
So
viele Wochen und Monate wurden wir in diversen Seminaren und Schulungen für
werdende Bereitschaftspflegeeltern auf diesen Moment vorbereitet und nach nur
zwei Wochen „standby“ sollte es schon so weit sein?!
Nur 20 Minuten nach den wichtigsten Fragen,
weshalb, welche Umstände, wie alt etc., saß ich schon im Auto und fuhr mit
zittrigen Händen in Richtung Jugendamt, um dort ein drei Wochen junges
Babymädchen abzuholen, welches ab genau diesem Moment für unbestimmte Zeit
einen sicheren Platz in unserer Familie benötigen würde.
So
viele Dinge gehen einem in diesem Moment durch den Kopf. Ist es wirklich die
richtige Entscheidung gewesen, sich für die Bereitschaftspflege zu entscheiden?
Was macht das alles emotional mit meinen Kindern und mit mir?
Meine
Kinder waren zu diesem Zeitpunkt 14 und 7 Jahre, somit aus dem Gröbsten raus
und kognitiv und auch auf der Gefühlsebene in der Lage mit diesen Dingen, die
Bereitschaftspflege mit sich bringt, zu verarbeiten.
Gleich
die erste Begegnung mit „Mogli“ war wie Magie, so sehr hat sie mich berührt.
Hilflos, schutzsuchend, so winzig, ein kleines verletzliches Wunder. Ich
kannte weder ihren Namen, noch sonst irgendwelche relevanten Fakten und doch
war sie mir so nah.
"Moglis“
Eltern verabschiedeten sich von ihr. Sie waren mit der Inobhutnahme
einverstanden und konnten sie gut gehen lassen. Sie wussten, es war nur ein
vorübergehender Aufenthalt bei uns, denn eine Rückführung hat, wenn irgendwie
möglich, oberste Priorität.
„Mogli“
verbrachte etwa fünf Wochen bei uns. Wir hatten in dieser Zeit nahezu tägliche
Besuchskontakte mit ihren Eltern. Sie durften sie immer für etwa zwei bis drei
Stunden im Jugendamt abholen und mit ihr spazieren gehen, oder bei schlechtem
Wetter, die Zeit dort mit ihrer Tochter verbringen. Die Kontakte verliefen häufig
nicht nach „Moglis“ Bedürfnissen, sodass es schwierig war, sie an einen festen
Rhythmus zu gewöhnen. Wenn „Mogli“ zur Ruhe kam, man ihr Zeit gab, konnte man
ihr bei der Entwicklung förmlich zusehen. Sie trank gut, ihr Stoffwechsel kam
langsam in Gang und sie öffnete immer öfter, wenn auch zaghaft ihre dunklen
Äuglein, die einem, so schien es mir, mitten in die Seele blicken konnten. Ihr
Blick hatte etwas so Weises, etwas Wissendes. Ich glaube, sie konnte in meinen
Augen lesen, was ich für sie empfand. Kennt ihr dieses Gefühl?
Nach
diesen fünf Wochen konnte sie sich selbstständig melden, wenn sie etwas benötigte,
sie wurde wach, wenn sie Hunger hatte oder wenn sie nach einer frischen Windel
verlangte und sie gurgelte, wenn sie einfach nur auf den Arm wollte.
Es kam der Tag X, viel zu
schnell, viel zu unerwartet.
Nach
richterlichem Beschluss sollte „Mogli“ mit ihrer Mutter in eine
Mutter-Kind-Einrichtung ziehen, um dort die Bindung aufzubauen, die ein Kind
zwingend benötigt, um sich entwickeln zu können. Bindung, Stabilität und ganz
allgemein die Versorgung, sollten in der Mutter-Kind-Einrichtung gefördert werden. Ich
fuhr also mit unserer Sozialarbeiterin und „Mogli“, in die Einrichtung um sie
nach einer kurzen „Einweisung“; wieviel sie in welchem Abstand trinkt, wann und
wie oft sie schläft und welche Rituale ihr helfen, sich sicher zu fühlen, an
ihre Mama zu übergeben.
Ein letzter Blick, das
letzte Mal ihren Duft einatmen, und dann die Türe ist zu. Was folgt? Jede
Menge schwarz, Tränen, der emotionale Supergau.
Genau
das ist mein Job. Für gewisse Zeit für Stabilität und Nestwärme zu sorgen! ich
wusste, unsere Zeit war begrenzt. Ich wusste das alles… Vorher..! Aber vorher
ist nicht nachher…
Sieben
Wochen, voller Sorge, sieben Wochen, die mich das Beten gelehrt haben, es möge
nichts passieren und sieben Wochen, die ich morgens nur für meine drei
Lieblingsmenschen aufgestanden bin. Meine Kinder und mein Mann, wir sind in
dieser Zeit sehr zusammengerückt, haben uns Halt gegeben. Die Geschichte um die
leibliche Familie von „Mogli“ war sehr komplex. Dennoch, ihre Mama hat die
Chance verdient, es zu schaffen, für ihr Kind zu kämpfen. Ich gönnte es ihr als
Mensch, von ganzem Herzen. Aus Gründen des Respekts vor „Moglis“ Familie, kann
ich nicht näher darauf eingehen, doch war ein Scheitern vorhersehbar.
Dann, der für mich
erlösende Anruf, dass sie schon am nächsten Tag zurückkommen würde.
Ich
hatte Angst. Was machen 7 Wochen mit einem Baby? Sie war inzwischen 15 Wochen
jung. Der Moment, sie wurde uns nach Hause gebracht, sie schlief im Maxi Cosi
und öffnete erst nach ein paar Minuten die Augen. Sie schaut mich mit ihrem
Blick an und lächelt sanft, sie liest, alles was ich ihr zu sagen habe, sieht
sie in meinen Augen.
Ich
erfuhr nur in Ansätzen was in der Zwischenzeit alles passiert war. „Mogli“ war
auf Verdacht etwa drei Wochen in einem Krankenhaus gewesen, weil man schwerwiegende
Störungen vermutete. Sie war in ihrer Entwicklung so weit zurück, dass man eine
geistige Einschränkung nicht ausschließen konnte. Für eine eingehende
Diagnostik war sie jedoch viel zu klein. Das würde warten müssen.
Nachdem
„Mogli“ wieder bei uns eingezogen war, ließen wir ihr alle Zeit der Welt,
wieder anzukommen. Zu verarbeiten und zur Ruhe zu kommen. Wir waren mehrere
Wochen damit beschäftigt, ihren Lebenswillen wieder zum Erwachen zu bringen,
sie wieder dazu bringen, Nahrung einzufordern, Bedürfnisse anzumelden. Ihre
körperliche Entwicklung stellten wir ganz hinten an. Zu sehr war „Mogli“ mit
anderen Dingen beschäftigt. Leises Vertrauen aufzubauen. Was hat sie wohl
gedacht, in dem Moment, in dem ich sie verlassen musste? –Diese Gedanken verfolgen
mich bis heute…
Nach
vielen Monaten emotionaler Achterbahnfahrt, vielen schlaflosen Nächten und
körperlicher und geistiger Erschöpfung, einer Gerichtsverhandlung und auch nach
vielen Gesprächen mit dem Jugendamt, war endlich klar;
Unser Herzenskind bleibt bei uns.
Es ist
nicht üblich, aus Bereitschaftspflegefamilie, Dauerpflegefamilie zu werden. Die Bereitschaft ein Kind dauerhaft
aufzunehmen ist größer, als nur für einen begrenzten Zeitraum. Die Angst vor
dem Abgeben ist vielen zu groß. Inzwischen vervollständigt „Mogli“ seit vier
Jahren unsere Familie und ist etwas ganz Besonderes. Ich lebe für alle
meine drei Kinder, liebe sie von ganzem Herzen. Ich habe zwei Bauchkinder und ein Herzenskind und fühle mich unendlich
reich.
Wir
kämpfen an vielen Fronten, gegen das Damoklesschwert, der Traumatisierung,
erhalten und verarbeiten „Moglis“ Vergangenheit. Die aufgeschobene Diagnostik
steht an. Und auch wenn ich mir so sicher bin, dass sie sich „nur“ etwas
verzögert entwickelt und es mir als Mama ganz egal ist, wie langsam oder wie
schnell sie lernt, ist es unabwendbar. Zu groß wäre die Gefahr der
Überforderung im Kindergarten oder später in der Schule. Ich sehe die
Diagnostik als Chance, sie zu schützen und nicht als Anhaltspunkt wie viele
Therapien und Frühförderung wohl nötig sein werden um sie an die
standarisierten Untersuchungsprogramme anpassen zu können.
„Mogli“
ist anders. Sie kann viele Dinge nicht, die sie eigentlich nach den modernen
Entwicklungsbausteinen können müsste. Aber in diesen Bausteinen ist auch nicht
vorgesehen, dass ein Kind fast 10 Monate auf die Sicherheit warten muss, ein
festes Zuhause zu haben. Sie war
wochenlang mit Überleben beschäftigt, für Entwicklung hatte ihr kleiner
Organismus keine Zeit. Sie kann so viele andere Dinge. Dinge, die sie zu einem
liebenswerten Menschen machen. Sie hat eine sehr ausgeprägte Wahrnehmung für
ihre Umgebung, nimmt jedes noch so kleine Käferchen wahr, versorgt ihre
Kuscheltiere mit einer wahren Hingabe und liebt es mir in ihrer Spielküche
ausgiebige Mahlzeiten zuzubereiten.
Mir
hat sie beigebracht, wir müssen lernen die Kinder dort abzuholen, wo sie
stehen, ihnen Raum und Zeit für ihr ganz eigenes Tempo einzuräumen und
natürlich zum richtigen Zeitpunkt mit Förderung der eigenen Stärken zu
beginnen. Aktuell ist unser wöchentliches Highlight die Reittherapie.
Regelmäßig muss ich schlucken, wenn ich sehe, dass sie loslässt, sich verlässt
und sich traut, zarte Bindungen einzugehen.
Und manchmal, an den
Tagen an denen sich ganz leise die Erschöpfung einschleicht, reicht ein Blick
in diese dunklen Augen, so viel Liebe, so viel Dankbarkeit! „Mogli“ lehrt
uns das Leben neu. Mit mehr Toleranz und mit noch mehr Demut, vor dem was wir
haben und haben können.
D.A.N.K.E.